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NIS2 für die Industrie: Ein praxisorientierter Leitfaden

Einleitung

Die Industrie digitalisiert ihre Prozesse in rasantem Tempo. Maschinenbau, Automobilfertigung oder Chemie setzen längst auf vernetzte Systeme, um Effizienz und Wettbewerbsfähigkeit zu steigern. Doch mit der Digitalisierung wächst auch die Verwundbarkeit. Produktionsanlagen, Industrieroboter und industrielle Steuerungssysteme (Operational Technology, OT) sind heute ein bevorzugtes Ziel von Hackern.

Ein einziger Angriff kann fatale Folgen haben: 2019 wurde der Aluminiumhersteller Norsk Hydro Opfer einer Ransomware-Attacke. Mehrere Werke mussten auf manuellen Notbetrieb umstellen – der Schaden belief sich auf rund 70 Millionen Euro. Auch in Deutschland wurden bereits Steuerungssysteme manipuliert, mit schweren Produktionsstörungen als Folge.

Genau hier setzt die neue NIS2-Richtlinie der EU an. Sie macht Cybersicherheit für Industrieunternehmen zur Pflicht und gibt einen klaren Rahmen vor, wie Netz- und Informationssysteme zu schützen sind.

NIS2 im Überblick für die Industrie

Die zweite EU-Richtlinie über „Network and Information Security“ (NIS2) ist der Nachfolger der ersten NIS-Richtlinie von 2016. Ziel ist ein einheitlich hohes Sicherheitsniveau in allen Mitgliedstaaten.

Wichtige Neuerungen für die Industrie:

  • Erweiterter Geltungsbereich: Erfasst werden nicht nur klassische KRITIS-Betreiber, sondern auch viele mittelgroße Hersteller, Zulieferer und Anlagenbetreiber.
  • Schwellenwerte: Bereits Unternehmen ab 50 Mitarbeitern oder 10 Mio. Euro Umsatz können betroffen sein.
  • Breite Branchenabdeckung: Neben Großunternehmen der Fertigung auch der Mittelstand in Maschinenbau, Chemie und Industrieanlagen.

Damit rückt eine Vielzahl von Unternehmen erstmals in den Fokus verbindlicher Cybersicherheitsregeln.

Zentrale Anforderungen der NIS2 für die Industrie

  1. Risikomanagement etablieren
    Unternehmen müssen Cyber-Risiken systematisch identifizieren und minimieren – durch klare Sicherheitsrichtlinien, Zugriffskontrollen, sichere Konfigurationen, regelmäßige Patches und Überwachungssysteme.
  2. Sicherheitsvorfälle erkennen und melden
    Schwere Vorfälle sind binnen 24 Stunden als Frühwarnung zu melden. Nach 72 Stunden muss ein detaillierter Bericht folgen, nach spätestens einem Monat der Abschlussbericht.
  3. Verantwortung auf Führungsebene
    Cybersicherheit wird zur Chefsache. Das Management ist haftbar bei groben Versäumnissen und muss aktiv an der Sicherheitsstrategie mitwirken.
  4. Notfallvorsorge und Business Continuity
    Backups, Wiederanlaufpläne, eingespielte Notfallteams und regelmäßige Übungen sind Pflicht, um Ausfallzeiten zu minimieren.
  5. Lieferketten absichern
    Auch die Sicherheit von Partnern und Zulieferern fällt unter NIS2. Verträge müssen Sicherheitsklauseln enthalten, um Risiken in der Supply Chain zu begrenzen.

Besonders wichtig: Die Vorgaben gelten nicht nur für die klassische Büro-IT, sondern explizit auch für Produktions- und Steuerungssysteme (OT).

Branchenspezifische Bedrohungen in der Industrie

Die Industrie sieht sich mit sehr spezifischen Gefahren konfrontiert:

  • ICS/SCADA-Angriffe: Hacker übernehmen Steuerungssysteme und gefährden Maschinen oder Prozesse.
  • Ransomware: Schadsoftware legt ganze Fertigungslinien lahm.
  • Sabotage in Smart Factories: Manipulierte Roboter oder Sensoren führen zu fehlerhaften Produkten.
  • Insider-Bedrohungen: Unachtsame oder böswillige Mitarbeitende öffnen Angreifern Tür und Tor.
  • Supply-Chain-Angriffe: Schadcode gelangt über kompromittierte Zuliefer-Software in die Fabrik.
Bedrohungen in der Industrie

Praxisbeispiele

  • Stahlwerk in Deutschland (2014): Hacker drangen per Phishing ins Büro-Netz ein, arbeiteten sich bis zur Produktion vor und beschädigten einen Hochofen.
  • Ransomware in Smart Factory: Über einen unsicheren Fernwartungszugang wurde Schadsoftware eingeschleust, die gesamte Fertigung kam zum Stillstand.

Beide Fälle zeigen: NIS2 adressiert genau diese Risiken, indem es Netzsegmentierung, MFA und Incident Response verbindlich fordert.

Wichtige Maßnahmen für die Industrie

  • Asset Management: Vollständige Inventarisierung aller Maschinen, Steuergeräte und IoT-Sensoren.
  • Netzwerksegmentierung: Strikte Trennung von Büro-IT, Produktions-OT und Datenaustauschzonen.
  • Incident Response: Detaillierte Notfallpläne mit klaren Rollen und Kommunikationswegen.
  • Sichere Lieferkette: Cybersecurity-Anforderungen in Verträgen verankern.
  • Security Awareness: Regelmäßige Schulungen für Ingenieure, Mitarbeitende und Management.

Schritt-für-Schritt zur NIS2-Umsetzung

  1. Ist-Analyse durchführen: Welche Systeme existieren? Welche Schutzmaßnahmen sind implementiert?
  2. Kritische Anlagen identifizieren: Fokus auf jene Prozesse, deren Ausfall die größten Folgen hätte.
  3. Sicherheitskonzept entwickeln: Orientierung an ISO 27001 oder IEC 62443.
  4. Maßnahmen implementieren: Von Quick Wins bis zu komplexeren Anpassungen in der OT.
  5. Kontinuierliches Monitoring: Überwachung und regelmäßige Audits, um den Standard langfristig zu halten.

Praxistipp: Starten Sie mit Pilotprojekten in einzelnen Werken oder Abteilungen, bevor Sie Maßnahmen unternehmensweit ausrollen.

Schritt-für-Schritt zur NIS2-Umsetzung

Zero-Trust-Architektur als Zukunftsmodell

Ein zentrales Prinzip der NIS2-Umsetzung ist „Zero Trust“. Das bedeutet: keinem System wird blind vertraut, jeder Zugriff wird geprüft.

  • Office-IT-Zone: Standardarbeitsplätze und Geschäftsanwendungen.
  • DMZ: Pufferzone für externe Partner und Fernwartung.
  • Produktions-OT-Zone: Maschinen, Steuerungen und Industrierechner.
  • Daten-Austausch-Zone: Kontrollierter Transfer zwischen IT und OT.

Wichtige Maßnahmen sind Multi-Faktor-Authentifizierung, dedizierte Jump-Server für Wartungszugriffe und vollständige Protokollierung aller Aktivitäten.

Zero-Trust-Architektur

Externe Unterstützung nutzen

Die Umsetzung von NIS2 erfordert spezielles Know-how, insbesondere an der Schnittstelle zwischen IT und OT. Externe Partner können helfen mit:

  • OT-Security Audits und Penetrationstests
  • Compliance-Beratung und Roadmap-Entwicklung
  • Mitarbeiterschulungen für Ingenieure und Management
  • Incident-Response-Teams im Ernstfall

Fazit

NIS2 verändert die Spielregeln für die Industrie. Cybersicherheit ist künftig Pflicht – und zugleich Chance. Unternehmen, die jetzt handeln, schützen nicht nur ihre Produktion vor Ausfällen und Schäden, sondern stärken auch ihre Wettbewerbsposition.

Eine robuste Sicherheitsstrategie erhöht die Anlagenverfügbarkeit, schützt geistiges Eigentum und schafft Vertrauen bei Kunden und Partnern.